Erinnerungen an die stürmischen Anfangsjahre der deutschen Wiedervereinigung

Prof. Michael Eichberger hielt im Domhofsaal eine große Rede.
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Viel Lob erhielt die Rede von Prof. Michael Eichberger beim Tag der Deutschen Einheit, die wir daher ungekürzt veröffentlichen. Wie die Einheit aus Sicht eines Spitzen-Juristen gelang, beschreibt Prof. Eichberger mit eindrucksvollen Worten:

„Der Vorsitzende der CDU, Tillmann Jahn, hat mich im Frühsommer diesen Jahres gebeten, heute zum Tag der Deutschen Einheit zu Ihnen zu sprechen und etwas aus meinem persönlichen Erleben, aus meiner Wahrnehmung dieses gewaltigen Umbruchs in der deutschen Geschichte und damit auch in unser aller Leben zu berichten. Ich habe gerne zugesagt und freue mich, heute hier sein zu dürfen. 33 Jahre sind seit der förmlichen Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten vergangen – ziemlich genau die Hälfte meines bisherigen Lebens. Ich habe also die Jahre 1989 und 1990 und natürlich auch die Zeit seither in einer sehr bewussten Lebensphase wahrgenommen. Lassen Sie mich daher in der folgenden guten halben Stunde auf Daten, Ereignisse und Wahrnehmungen im Zusammenhang mit der deutschen Einigung zurückblicken, die mich in diesen Jahren in besonderer Weise betroffen oder jedenfalls sehr berührt haben: ein biografisch gefärbter Rückblick also und einer, das wird Sie bei meinem Werdegang nicht überraschen, der auch in besonderer Weise durch eine beruflich bedingte Sichtweise auf die deutsche Einheit geprägt ist. Der Blick eines Juristen dürfte eben naturgemäß ein anderer sein, als etwa der eines Ökonomen, eines Journalisten oder bspw. eines Historikers.

1. Ich selbst hatte und habe keinen spezifischen persönlichen, insbesondere keinen familiären Bezug in das Gebiet der ehemaligen DDR. Wir hatten keine Verwandtschaft dort. Außerdem war mein Vater Berufsoffizier bei der Bundeswehr. Sodass uns auch deshalb alle Reisen in den „Ostblock“ verwehrt waren. Auch die in den 19siebziger und 19achtziger Jahren in Mode gekommenen Sommerferien an der kroatischen Adria-Küste waren für uns daher keine Option.

2. Die politischen Umbrüche der Jahre 1989er und 90er kamen für mich genauso überraschend wie für die allermeisten anderen Zeitgenossen. In der Präambel zum Grundgesetz aus dem Jahr 1949 stand damals zwar noch „Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ An die reale, gar naheliegende Möglichkeit einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten glaubte damals im Grunde aber fast keiner mehr. Nach dem Fall der Mauer Ende 1989 überschlugen sich dann aber regelrecht die Ereignisse. Fundamentale Entscheidungen zum Status und zur völkerrechtlichen Weiterentwicklung von BRD und DDR, zur Stellung der ehemaligen vier Siegermächte, der Europäischen Union und der NATO zur deutschen Entwicklung wurden mit - aus heutiger Sicht - aberwitzige Geschwindigkeit – tatsächlich im Wochentakt – getroffen.

In diesen Monaten der Jahre 1989 und 1990 brach mit erstaunlicher Macht – und das ist der erste juristische Meilenstein aus dieser Zeit, an den ich mich besonders intensiv erinnere – eine Diskussion darüber auf, ob die DDR dem Grundgesetz schlicht beitreten solle oder ob eine Nationalversammlung sich für das vereinte Deutschland eine völlig neue Verfassung geben sollte. Die wenigsten unter Ihnen werden wissen, dass das Grundgesetz damals für beide Lösungen offen war. Im damaligen Art. 23 hieß es: „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen (und hier wurden weiter die alten Bundesländer der drei westlichen Besatzungszonen aufgezählt). In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“ Ganz am Ende des Grundgesetzes sah Art. 146 in seiner damaligen Fassung vor: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Die Frage, wie und unter welchen verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen die Wiedervereinigung stattfinden sollte, war natürlich keineswegs banal. Durch die damit festgelegten Spielregeln für künftiges staatliches Handeln war dies vielmehr von eminenter Bedeutung für den weiteren Werdegang der deutschen Geschichte. Überraschend für mich war aber nicht so sehr das in der Sache ja naheliegende Ringen um den besten Weg der Wiedervereinigung (Beitritt oder neue Verfassung), sondern die dabei gerade auch in den alten Bundesländern aufflammende intensive Diskussion auf breiter gesellschaftlicher Ebene über den Wert des Grundgesetzes als geltende Verfassung, über seine vermeintlichen Geburtsfehler sowie um die Chance einer grundlegenden Erneuerung von Staat und Gesellschaft aus Anlass der Wiedervereinigung durch eine neue Verfassung. Politiker, Staatsrechtslehrer, Journalisten, Historiker, auch die „normalen“ Bürger auf der Straße diskutierten unvermittelt mit Leidenschaft über die Entstehung des Grundgesetzes: ohne Nationalversammlung und ohne Volksabstimmung, unter einem gewissen Druck der Besatzungsmächte und mit dem ausdrücklichen Vorbehalt als Provisorium.

Hierzu hieß es in der Präambel des Grundgesetzes in ihrer ursprünglichen Fassung des Jahres 1949, aus der ich bereits zitiert habe, einleitend: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das deutsche Volk in den Ländern .... um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine Neuordnung zu geben, kraft seiner erfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen.

Weder der danach erklärt provisorische Charakter noch die fehlende Volksabstimmung konnten jedoch die Tauglichkeit des Grundgesetzes als wirksame und demokratisch hinreichend legitimierte Verfassung für den deutschen Staat ernsthaft infrage stellen. Damals lagen schon 40 Jahren auf dieses Grundgesetz solide gegründeter und gelebter Staatlichkeit hinter uns, zig mal darauf gestützte demokratischer Wahlen und Tausende auf dem Grundgesetz ruhende Gerichtsentscheidungen, vor allem durch das Bundesverfassungsgericht. Das Grundgesetz als vollwertige Verfassung konnte daher letztlich nicht in Zweifel stehen. Auch inhaltlich war in West und Ost eine große Mehrheit der Überzeugung, dass es sich beim Grundgesetz um eine gute, ja eine sehr Verfassung handelt. Die im Grundgesetz niedergelegten Werte, an denen sich Staat und Gesellschaft zu orientieren haben – insbesondere die Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie – wurden und werden von der großen Mehrheit in der Bevölkerung geteilt. Dass es heute, 33 Jahre später, gerade beim Befürworten der und Einstehen für die demokratischen und grundrechtlichen Werte ernsthaft kriseln würde, hat man sich damals nicht vorstellen können.

Dennoch gab es damals nicht wenige, die eine neuen Verfassung schaffen und ihr mit einer Nationalversammlung und Volksabstimmung „höhere Weihen“ verleihen wollten. Damit war von ihnen zugleich der politische Wunsch zu umfangreicheren inhaltlichen Neuorientierungen in der Verfassung verbunden. Auf der Wunschliste standen mehr soziale Grundrechte wie etwa ein Grundrecht auf Arbeit, auf Wohnung, auf soziale Fürsorge (wie sie in vielen anderen Staaten bereits existierten), ein Grundrecht für Kinder, ein Grundrecht auf Datenschutz, mehr plebiszitäre Elemente, die im Grundgesetz fast völlig ausgeschlossen sind, eine territoriale Neugliederung des Bundesgebiets durch Zusammenlegung einzelner Bundesländer, eine Neuaufteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern, eine Neugestaltung des Parlamentsrechts, Änderungen im Wahlrecht, eine verfassungsrechtliche Grundlage für die Einsätze der Bundeswehr, eine Neuregelung des Staatshaftungsrechts usw. und so fort. Die Liste ließe sich durchaus noch verlängern. Zu alledem ist es, wie wir alle wissen, nicht, jedenfalls nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung gekommen. Hauptgründe dafür waren zum einen eine verbreitete Skepsis, ja Furcht vor der Nichtbeherrschbarkeit einer umfassend aufflammenden Verfassungsdebatte über alle möglichen Neuregelungen. Gleichzeitig existierte eine nahezu einhellige Überzeugung von der hohen Qualität des geltenden Grundgesetzes. Nicht zuletzt war da aber auch noch die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der sich die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990 vollzog. Alle beteiligten Akteure standen seinerzeit unter dem – aus heutiger Sicht gewiss nicht unberechtigten – Eindruck eines nur schmalen Zeitfensters, das die Geschichte den Deutschen für die Wiedervereinigung geöffnet hatte. Es war vor allem die DDR selbst, die schon kurz nach den ersten freien Neuwahlen im März 1990 für den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland und zum Grundgesetz gestimmt und dies im Oktober 1990 vollzogen hat.

Für eine breite Diskussion um eine neue Verfassung war damals kein Raum. Diese Diskussion wurde dann in begrenztem Rahmen nach der Wiedervereinigung durch die gemeinsame Verfassungskommission, gebildet aus Bundestag und Bundesrat, nachgeholt, die zu einigen nicht unerheblichen Neuerungen und Ergänzungen des Grundgesetzes geführt hat.

3. Während ich die Verfassungsdiskussion anlässlich der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten noch lediglich als nicht unmittelbar involvierter, wenn auch interessierter Zuschauer erlebt habe, war ich in den nächsten Vorgang, den ich erwähnen will, direkt beruflich eingebunden. Es ging um die erste gesamtdeutsche Wahl zum Deutschen Bundestag nach der Wiedervereinigung im Dezember 1990. Zu diesem Zeitpunkt war ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Bundesverfassungsgericht abgeordnet und dort dem Richter Hans Hugo Klein zugewiesen. An das Verfahren, um das es hier geht, kann ich mich deshalb noch gut erinnern, weil es in ganz außergewöhnlicher Weise und unter höchstem Zeitdruck beim Bundesverfassungsgericht vorbereitet und entschieden wurde. Außerdem zeigt es, wie flexibel und vor allem wie schnell die in dieses Verfahren involvierten staatlichen Institutionen zu reagieren bereit und in der Lage waren. Es ging um die Verfassungsmäßigkeit der 5% Sperrklausel bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen. Diese Klausel im Wahlrecht besagt, wie sie alle wissen, dass nur Parteien, die über 5% der Zweitstimmen erringen <oder 3 Direktmandate gewinnen>, mit ihren Abgeordneten in den Deutschen Bundestag einziehen dürfen. Ziel dieser Sperrklausel ist es, die Arbeitsfähigkeit des Bundestags zu sichern, die ansonsten durch den Einzug einer Vielzahl kleiner und kleinster Splitterparteien beeinträchtigt werden könnte. Die Klausel ist jeweils auf das gesamte Wahlgebiet bezogen. Die erste gesamtdeutsche Wahl stand nun unter der Besonderheit, dass bei ihr auch kleinere Parteien antraten, die bis in den August 1990 hinein nur jeweils auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland oder der Deutschen Demokratischen Republik agieren konnten. So hätte die bis dahin im Westen nicht vertretene PDS (frühere SED) die 5% Hürde nur überwinden können, wenn es ihr gelungen wäre, auf dem Gebiet der dann ehemaligen DDR bei der gesamtdeutschen Wahl knapp 25 Prozent der Wählerstimmen zu erringen. Die PDS – aber auch die Grünen und die Republikaner – hatten sich hiergegen mit dem Vorwurf einer Verletzung in ihrem Recht auf Chancengleichheit an das Bundesverfassungsgericht gewandt und bekamen Recht.

Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die fünf Prozent Sperrklausel unter den besonderen Bedingungen der ersten gesamtdeutschen Wahl ausnahmsweise nur mit Begrenzung der Bezugsgröße auf das ursprüngliche Wahlgebiet West oder Ost verfassungsgemäß sei. Es genügte also ausnahmsweise, wenn beispielsweise die PDS allein in den neuen Bundesländern die 5%-Hürde übersprang. Auch hier macht die Geschwindigkeit sprachlos, mit der sowohl die Gesetze zur ersten gesamtdeutschen Wahl wie auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zustande kamen. Der Vertrag mit der DDR über das Abhalten einer gemeinsamen Wahl im Dezember 1990 stammte vom 3. August 1990. Die erforderlichen Änderungen des Bundeswahlgesetzes erfolgten Ende August 1990. Danach gingen die Anträge beim Bundesverfassungsgericht ein, über die es am 26. September 1990 mündlich verhandelte und am 29. September das Urteil verkündete.

Wenn man bedenkt, dass Entscheidungen der Senate Bundesverfassungsgerichts regelmäßig einer Vorbereitungszeit von mehreren Monaten, häufig auch weit über ein Jahr hinaus bedürfen, insbesondere wenn, wie hier, eine mündliche Verhandlung stattfindet, grenzt der beschriebene Zeitablauf für dieses Verfahren an ein Wunder.
Halbwegs verständlich wird dies nur dadurch, dass die Klagen gegen die beanstandete Sperrklausel schon Wochen vorher absehbar waren und deshalb die damit aufgeworfenen Verfassungsrechtsfragen schon vor Einreichung der Klage prophylaktisch gutachtlich durch wissenschaftliche Mitarbeiter bearbeitet und diskutiert werden konnten. Davon war auch ich als sog. WiMi betroffen. Das hat sich mir sehr eingeprägt. Inhaltlich ist angesichts der evidenten Chancenungleichheit der beanstandeten Regelung für die betroffenen Parteien meines Erachtens nichts gegen die damalige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuwenden.

Interessant in diesem Zusammenhang ist aber wohl, dass nach meiner Erinnerung damals nicht wenige der an dieser Entscheidung beteiligten Richter davon ausgingen, dass die PDS bei der übernächsten Bundestagswahl ohnehin von der politischen Bildfläche verschwunden sein werde. Ein Trugschluss, der für die getroffene Entscheidung zwar unerheblich, für viele andere Fehleinschätzungen zur Lage und Entwicklung der Verhältnisse in der ehemaligen DDR allerdings typisch war.

4. Vielen von Ihnen werden die Begriffe „Aufbauhilfe Ost“ oder auch die sogenannte „Buschzulage“ noch etwas sagen; den Jüngeren unter Ihnen freilich nichts mehr. Mit der Wiedervereinigung ging eine ungeheure Herausforderung einher, die Institutionen in den neuen Bundesländern, die dortigen Behörden und Gerichte, in die Lage zu versetzen, nach dem nunmehr – abgesehen von einigen Überleitungsbestimmungen im Einigungsvertrag – einheitlich geltenden Recht der Bundesrepublik Deutschland und damit vor allem auch nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zu entscheiden. Dafür waren die Verwaltungsbehörden der ehemaligen DDR und ihr Personal natürlich nicht gerüstet und nur sehr begrenzt verwendbar – die Gerichte und Staatsanwaltschaften nahezu überhaupt nicht. Die Gerichte in der DDR hatten Recht zu sprechen nicht in erster Linie zur Klärung und Durchsetzung der Rechte der Bürger. Ihre Aufgabe war es vielmehr, zur Verwirklichung einer sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung beizutragen. Gerade in politisch oder auch nur gesellschaftspolitisch angehauchten Fällen hatten die Richter und Staatsanwälte nach Maßgabe der von der Partei, der SED, konkret für das jeweilige Verfahren gegebenen Vorgaben zu entscheiden. Da eine rechtsstaatlich funktionierende Gerichtsbarkeit in der ehemaligen DDR nicht existierte, eine Verwaltungsgerichtsbarkeit gar nicht vorgesehen war, waren die Bürger auch nicht in der Lage, gegen staatliches Unrecht mittels Widerspruch und Klage vorzugehen. Für sie gab es lediglich die Möglichkeit einer „Eingabe“ an eine höhere Behördenstelle, vorzugsweise an eine Institution der Partei. Dieses Eingabewesen war in der DDR-Bevölkerung tief verwurzelt und es bedurfte eines langen Zeitraums, die Neubürger damit vertraut zu machen, dass sie zwar auch unter der Geltung des Grundgesetzes Eingaben machen konnten, diese aber gegenüber einer gesetzesgebundenen Verwaltung zumeist wenig erfolgversprechend waren, und dass ihnen stattdessen Widerspruch und Klage zu neutralen Gerichten zur Verfügung stehen.

Unter diesen Bedingungen bestand in den Anfangsjahren nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern ein hoher Bedarf an im westdeutschen Recht ausgebildeten und geschulten Verwaltungsbeamten, besonders aber auch an Richtern und Staatsanwälten aus dem Westen.
Viele aus meinem Bekannten- und Freundeskreis sind zu Beginn der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts zur „Osthilfe“ vorübergehend in die neuen Bundesländer gegangen, nicht wenige sind auch auf Dauer dort geblieben. Die Arbeitsbedingungen im „wilden Osten“ waren in der Anfangszeit für die „Aufbauhelfer“ extrem schwierig und herausfordernd, aber, wie ich aus vielen Erzählungen weiß, offenbar auch hoch spannend und mit Blick auf das Geschaffene dann auch sehr befriedigend. Die Motive der Aufbauhelfer waren so unterschiedlich wie die Menschen selbst: Sie reichten vom altruistischen Idealismus bis zur gesuchten Chance eines Neuanfangs nach persönlichem Scheitern im Westen. Nicht verschwiegen werden soll, dass viele der „Aufbauhelfer Ost“ eine steile Karriere erhoffen konnten, wie sie im alten Westen für sie kaum oder nur über eine weitaus längere Wegstrecke zu erreichen gewesen wäre. So waren denn auch die allermeisten Leitungspositionen in Verwaltung wie auch in der Justiz in kürzester Zeit durch Mitarbeiter mit Westbiografie besetzt. Da es sich dabei zudem um zumeist relativ junge Bedienstete handelte, waren damit die Beförderungsstellen auf lange Zeit vergeben.

Hart war insbesondere die Ausgangslage für die ehemaligen DDR-Juristen vor allem im Justizdienst. Alle Richterinnen und Richter wurden zunächst nur in einem vorläufigen Arbeitsverhältnis übernommen und durch Richterwahlausschüsse einer Überprüfung unterzogen, ob sie in ihrer vorherigen Tätigkeit gegen Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hätten oder für das frühere Ministerium für Staatssicherheit bzw. das Amt für nationale Sicherheit tätig waren. Diese Überprüfung wurde im Übrigen den neuen Ländern keineswegs durch die alte Bundesrepublik aufoktroyiert. Sie wurde vielmehr bereits im August 1990, also noch vor dem Beitritt zum Grundgesetz, auf gesetzlicher Grundlage durch die damalige DDR selbst eingeführt und dann in den Einigungsvertrag übernommen. Diese Prüfung überstand nur eine Hand voll aus der ohnehin geringen Zahl ehemaliger DDR-Richter (rund 1500 Richter 1200 Staatsanwälte und 600 Rechtsanwälte). Ungeachtet dieser ja durchaus nachvollziehbaren Genese liegt es nahe, dass die beschriebene Stellenentwicklung in Verwaltung und Justiz das schon bald in den neuen Bundesländern aufkommende Gefühl der „feindlichen Übernahme“ durch den Westen verstärkt hat. Gerade dieser Tage hat eine Studie die nach wie vor starke Unterrepräsentation von Menschen mit Ostbiographie in Spitzenpositionen von Wirtschaft, Verwaltung und besonders auch der Justiz bestätigt. Dass dies zu Frustration und Verdruss im Osten führt ist nachvollziehbar. An der Verbesserung dieser Lage muss gezielt gearbeitet werden, wobei ich aber wenig von Pauschallösungen wie beispielsweise einer „Ostquote“ halte.

5. Lassen Sie mich zur Abrundung meiner persönlichen Erfahrungen mit der Wiedervereinigung noch auf eine eher späte aber durchaus nachdrückliche eigene Begegnung mit dem „Osten“ zu sprechen kommen. Mein erster Schritt in diese Richtung hat mich mit meiner Wahl zum Richter am Bundesverwaltungsgericht 1998 zunächst nach Berlin geführt – in den alten Westen. Dort hatte das Bundesverwaltungsgericht im Gebäude des ehemaligen preußischen Oberverwaltungsgerichts unmittelbar neben dem Bahnhof Zoo seit Anfang der 1950er Jahre seinen Sitz. Es war dort über Jahrzehnte die einzige oberste Bundesgerichtsinstanz in Berlin. So war ich also für vier Jahre von 1998 bis 2002 mit dem Bundesverwaltungsgericht in Berlin – eine wahnsinnig spannende Zeit, zumal in diesen Zeitraum der Umzug der Bundesregierung nach Berlin fiel, verbunden mit den gewaltigen Bautätigkeiten in Mitte und im Regierungsbezirk. Danach hieß es wieder Abschied nehmen von der großartigen und inspirierenden Hauptstadt. Es ging nach Leipzig in das ehemalige Gebäude des Reichsgerichts.

Auch dies eine unmittelbare Folge der Wiedervereinigung. Denn es bestand Konsens in Parlament und Regierung, dass mit der Wiedervereinigung auch oberste Behörden der Bundesverwaltung und oberste Gerichte der Bundesjustiz in den neuen Ländern angesiedelt werden sollten. Wenig überraschend traf dieser grundsätzliche Konsens bei den von einem Umzugsansinnen konkret Betroffenen auf zum Teil erbitterten Widerstand. So sollte in das prächtige, damals aber noch in großen Teilen verfallene Reichsgerichtsgebäude eigentlich der in Karlsruhe residierende Bundesgerichtshof einziehen. Denn er war der direkte Nachfolger des Reichsgerichts. Die Richter des Bundesgerichtshofs wehrten sich jedoch mit Händen und Füßen dagegen, in den Osten verpflanzt zu werden. So traf es das Bundesverwaltungsgericht, dessen damaliger Präsident dem Umzug nach Leipzig bereitwillig zustimmte. Eine Haltung, die keineswegs von allen Mitgliedern des Gerichts geteilt wurde. Nach der Restaurierung des teilweise zerfallenen Reichsgerichtsgebäudes konnte das Bundesverwaltungsgericht dann im Jahre 2002 nach Leipzig umziehen – in ein prachtvolles Gerichtsgebäude. Der 1895 vollendete Bau war nach dem Reichstag das zweitgrößte Offizialgebäude im Deutschen Reich und ganz im Stil der Justizpaläste des 19. Jahrhunderts errichtet.
Die vier Jahre die ich dann in Leipzig verbringen durfte, haben mich die Stadt und das Gericht schätzen und lieben gelernt. Wer von Ihnen einmal Leipzig einen Besuch abstattet, sollte unbedingt das Reichsgerichtsgebäude besichtigen. Man kann auch ohne vorherige Anmeldung die Eingangshalle betreten und die beeindruckende Räumlichkeit auf sich wirken lassen. Die Stadt selbst, die 2002 durchaus noch etwas „ostisch“ wirkte, hat sich mittlerweile prachtvoll entwickelt, ist quirlig und voller Leben. Darauf näher einzugehen würde jedoch einen eigenen Vortrag füllen.

6. Gestatten Sie mir stattdessen ein paar abschließende Bemerkungen zu meiner Wahrnehmung der Wiedervereinigung. Sie war eine ungeheure Herausforderung für alle Deutschen, ein beispielloser Kraftakt aller Bürgerinnen und Bürger, der Wirtschaft, ganz besonders aber auch der staatlichen Institutionen – im Osten, soweit sie nach der Wende noch handlungsfähig waren, und vor allem im aufnehmenden Westen. Dieser Westen hat mit einem bewundernswert funktionierenden Staatsapparat und enormem persönlichen Einsatz seiner Beamten und Bediensteten die Herausforderungen bewältigt, die die Transformation der zerfallenen DDR in einen demokratischen Rechtsstaat mit sich gebracht hat. Gewiss ist dabei durchaus nicht alles optimal gelaufen, war nicht jede Entscheidung richtig und sinnvoll. Ich erinnere nur an die im Rückblick vielfach sehr kritisch gesehene Arbeit der Treuhandanstalt bei der Privatisierung des ehemaligen Volksvermögens oder an die bis heute umstrittenen Regelungen zur Vermögensrückgabe nach dem Prinzip Eigentumsrückgabe vor Entschädigung, von dem aber gerade die Enteignungen vor 1949 ausgenommen waren. Dennoch bleibt die friedliche und rechtsstaatliche Umsetzung der Wiedervereinigung nach meiner festen Überzeugung auch im Rückblick eine überragende Leistung beider deutschen Staaten und aller, die daran mitgewirkt haben.

Die mentale und emotionale Hauptlast der Wiedervereinigung freilich haben die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR getragen. Sie haben zwar mit der Wiedervereinigung das hohe Gut der Freiheit errungen und es wurde ihnen eine bis dahin unerreichbare Option auf materiellen Wohlstand eröffnet. Für alle war dies aber zunächst einmal mit dem Verlust von Lebensgewohnheiten und Lebensgewissheiten und damit mit enormen Anpassungszumutungen an völlig neue Lebensverhältnisse verbunden. Viele traf es aber weitaus härter mit dem Verlust von Arbeitsplätzen, dem Zerbrechen ganzer Erwerbsbiographien. Das darf man nicht aus dem Blick verlieren, wenn heute im alten Westen immer wieder mit Skepsis und Unverständnis auf vermeintliche Undankbarkeit und Unzufriedenheit vieler Menschen in den neuen Bundesländern geschaut wird. Wir wissen nicht, wie wir als „Wessis“ solche existentiellen Veränderungen und Umbrüche verarbeitet hätten. Ob und inwieweit man mit dem beschriebenen Erleben aus der jüngeren Geschichte auch die verstörende aktuelle Stärke der AfD in den neuen Ländern erklären kann, wird wohl erst in der Zukunft einigermaßen verlässlich beantwortet werden können. Ungeachtet aller Erklärungsversuche ist die Ausbreitung illiberalen, populistischen, rechtsradikalen Gedankenguts jedenfalls eine Bedrohung unserer Werte und unserer Demokratie, die nicht mit Schulterzucken hingenommen werden darf, sondern von uns allen in Ost wie West politisch bekämpft werden muss.

Ich habe nun viel über Belastungen, Herausforderungen, Zumutungen und Leistungen im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit gesprochen. Ich will aber nicht schließen, ohne betont zu haben, dass die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten in Frieden und Freiheit zu einem demokratischen Rechtsstaat nach meiner festen Überzeugung ein ungeheurer Glücksfall nicht nur für uns, sondern für ganz Europa und, wenn man die zahllosen heutigen Krisenherde in der Welt in den Blick nimmt, für die Welt insgesamt war, für den dankbar zu sein, wir allen Grund haben.

Autor:

Axel Sturm aus Ladenburg

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